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„Noch nie war Wahlkampf so emotional aufgeladen“

Dr. Christian Ehler ist seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments. Der gebürtige Münchner studierte Journalistik, Politologie und Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der American University in Washington, D.C. Von November 2000 bis Oktober 2010 war Ehler Landesvorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU Brandenburg. Seit Mai 2003 gehört Dr. Christian Ehler dem Landesvorstand der CDU Brandenburg an und ist kooptiertes Mitglied im Europaausschuss des Deutschen Bundestages. Im Gespräch mit dem Teltower Stadt-Blatt berichtet Dr. Christian Ehler, wie er den Wahlkampf erlebt hat und warum gerade Erstwähler die Europawahl vom 6. bis 9. Juni als Chance begreifen sollten.

Teltower Stadt-Blatt: Wie erleben Sie den Wahlkampf?
Dr. Christian Ehler: Ich mache mir Sorgen um den Ton der öffentlichen Debatte in diesem Wahlkampf. Nicht nur im Internet oder in den sozialen Medien, sondern auch auf der Straße und an den Wahlständen. Ich finde, kein Thema rechtfertigt Aggressivität und Drohungen. Kürzlich kam eine Dame an unseren Stand und sagte, sie wünsche mir den Tod. Ich habe sie gefragt, warum sie mir das wünscht und dass sie doch sicher auch Kinder und Enkelkinder hat und man doch eigentlich niemandem den Tod wünschen sollte. Da sagte sie: „Na ja, den Tod vielleicht nicht. Aber eine Krankheit schon.“ Da habe ich mich gefragt, was das wohl über unsere Gesellschaft aussagt. Es ist nicht nur so, dass Politiker inzwischen bedroht oder angegriffen werden, sondern dass die Fähigkeit, durch Debatte und Diskussion zu Kompromissen zu kommen, verloren geht. Das finde ich sehr bedauerlich. Es ist mein fünfter Wahlkampf und noch nie waren die Themen so emotional aufgeladen. Europa heißt Kompromiss und Kompromissbereitschaft. Und ich mache mir Sorgen, was diese aufgeheizte Stimmung für die kommenden Landtagswahlen und Bundestagswahlen bedeutet.

Immer häufiger werden Wahlhelferinnen und Wahlhelfer angegriffen.
Das ist wirklich schockierend. Denn meistens sind es Menschen, die einem ganz normalen Beruf nachgehen und sich in ihrer Freizeit, aus Überzeugung, politisch und demokratisch in einer Partei engagieren. Oder indem sie Flyer verteilen oder Wahlplakate aufhängen. Und leider werden diese Menschen immer öfter aktiv angegriffen. Das ist eine Stufe der Aggressivität, die eines respektvollen gesellschaftlichen Miteinanders unwürdig und demokratiefeindlich ist.

Was ist passiert, dass es so weit kam?
Leider haben wir noch keinen Weg gefunden, den Menschen klarzumachen, dass Radikalisierung keine Probleme löst. Vor allem in den sozialen Medien ist das Phänomen der Radikalisierung sehr stark. Hinzu kommt, dass wir keine Kontrolle über diese Medien haben. Die Regeln unserer Gesellschaft sind durch das klassische Strafrecht geregelt. Aber im Internet kann jeder schreiben und verbreiten, was er will, ohne wirklich Konsequenzen fürchten zu müssen. Und dieser radikale Diskurs wird nun auf die Straße getragen. Inzwischen wird der öffentliche Raum von einer radikalen Minderheit dominiert, die extrem laut ist.

Ist es ein neues Phänomen?
Diese Rhetorik gab es früher auch, zum Beispiel am Stammtisch. Aber damals funktionierte die soziale Kontrolle anders. Die Gemeinschaft hat sofort eingegriffen, wenn Grenzen überschritten wurden. Heute ist es leider oft so, dass die Menschen nicht mehr eingreifen und lieber resignieren, sich abwenden – weil sie keinen Ärger haben wollen, weil sie sich nicht in Gefahr bringen wollen. Dieses Wegschauen ist fatal. Es ist wichtig, gegen rechtsextremes Gedankengut zu demonstrieren. Aber genauso wichtig ist es, im Alltag immer wieder klar Stellung zu beziehen, wenn zum Beispiel beim Bäcker oder an der Bushaltestelle eine rassistische Bemerkung fällt. Ich bin auch nach fünf Wochen Wahlkampf davon überzeugt, dass die meisten Menschen rassistische und menschenverachtende Äußerungen nicht gutheißen. Die Schule spielt sicher eine wichtige Rolle. Viel wichtiger erscheint mir aber, was Kindern im Elternhaus vermittelt wird. Öffentliche Sicherheit wird niedrigschwellig von den Menschen selbst hergestellt.

Was kann Europa dem entgegensetzten?
Ich glaube, dass die Pressefreiheit da ein ganz wichtiger Baustein ist. Europa hat sich immer dafür eingesetzt und immer die Pressefreiheit eingefordert. Wenn freie Berichterstattung oder Richter unter Druck gesetzt werden, dann hat das politische Europa sehr viel durchgesetzt. Denn es gilt: Wer sich nicht an den europäischen Grundkanon hält, kann auch keine Fördermittel erwarten. Wer sich aus der Solidarität der Grundrechte verabschiedet, kann keine wirtschaftliche Solidarität erwarten. Das haben wir am Beispiel Polens oder Ungarns sehr gut beobachten können. Wenn man sich über 900 Jahre in die Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen wollte, hat man das immer mit Krieg getan.  Zum Beispiel als der Kaiser den protestantischen Kurfürsten ihre Privilegien nehmen wollte und das zum Dreißigjährigen Krieg führte. Zum Glück haben wir heute in Europa eine ganz andere Grundhaltung. Wir schätzen die Meinungs- und Religionsfreiheit. Auch wenn es noch nicht immer perfekt ist, fühlen sich die europäischen Länder heute einem gemeinsamen Werte- und Rechtskanon verpflichtet. Und sie wissen, dass es Konsequenzen haben kann, wenn sie sich nicht daranhalten. Der Schutz der Grundrechte in den Mitgliedstaaten wird heute durch Europa zusätzlich abgesichert.

Was wäre das Schlimmste das Europa bei diesen Wahlen passieren könnte?
Eine geringe Wahlbeteiligung kann dazu führen, dass Extremisten an Einfluss gewinnen. Und damit meine ich Links- und Rechtsextremismus. Wenn die Ränder durch Wahlen gestärkt werden und Druck auf die demokratische Mitte ausüben, kann das fatale Folgen für die EU haben: Vergessen wir nicht, dass auch Parteien und Kandidaten zur Wahl antreten, die die EU abschaffen wollen, auch wenn sie dies wie die AfD mit Aussagen wie „Wir wollen die EU nur reformieren“ tarnen. In Wirklichkeit streben solche Gruppierungen den Dexit an, also den Austritt Deutschlands aus der EU. Die gleiche Gefahr droht von der extremen Linken, die versucht, ideologischen Umweltschutz mit Gewalt durchzusetzen, weil sie davon überzeugt ist, dass nur sie und nur mit radikalen Methoden die Menschheit retten kann und muss. Wir müssen keine großen Parallelen zur Weimarer Republik ziehen, aber wir sehen, wie oft linke und rechte Extreme einer Meinung sind. Denn beide haben einen gemeinsamen Feind: die Demokratie.

Warum sollte ein Erstwähler bei diesen Europawahlen seine Stimme abgeben?
Ich würde ihm keine politischen Motive anbieten, denn es geht um etwas viel Wichtigeres. Um seine private und berufliche Zukunft. Wenn sich heute ein junger Mensch bei einem Unternehmen in Deutschland bewirbt, wird dieses Unternehmen einen großen Teil seiner Produktion innerhalb des europäischen Birnenmarktes haben. Das bedeutet, dass der 18-Jährige für sein Unternehmen in der EU unterwegs sein wird, mindestens eine europäische Sprache sprechen sollte und Kollegen aus anderen EU-Ländern haben wird. Sicher wird er auch einige Zeit in einem anderen europäischen Land leben und arbeiten. Vielleicht in einem internationalen Forschungsteam in Portugal oder auf Montage in Schweden. Vielleicht lernt er im Ausland auch seine Partnerin oder seinen Partner kennen, heiratet und bekommt Kinder. Und sicher wird er für die Zeit im Ausland seine Rente in Deutschland beziehen wollen. Wer heute 18 Jahre alt ist, kann mit dem europäischsten Leben rechnen, das je eine Generation führen durfte. Freizügigkeit, europäische Sozialversicherung, Mobilität, eine gemeinsame Währung – das sind Realitäten, von denen frühere Generationen nicht einmal träumen konnten. Ich setze große Hoffnungen in diese Generation. Denn sie konsumiert Europa nicht nur – wie etwa die Abschaffung der Roaming-Gebühren innerhalb der EU -, sondern sie hat die historische Chance, ihr berufliches und privates Leben auf einem gemeinsamen europäischen und rechtlich abgesicherten Fundament aufzubauen.

Foto: Dr. Christian Ehler