Von Pfütze zu Pfütze: Wenn Kindern trauern
Der Verlust eines nahen Angehörigen wirft Familien oft aus der Bahn. In speziellen Trauergruppen können Kinder ihren Gefühlen freien Lauf lassen, um für sich einen gesunden Umgang mit ihrer Trauer zu finden. Ein Thema, das nach wie vor zu einem der größten gesellschaftlichen Tabus zählt.
Durch die fröhliche Begrüßung dauert es eine Weile, bis sich die Kinder und zwei Erwachsene in dem sanft erleuchteten Raum auf dem grünen Teppich niederlassen. In der Mitte steht eine Klangschale aus Messing. Ein Glas mit leuchtend bunten Steinen und ein paar Walnüsse liegen zerstreut um einen blauen Plüschkraken herum. Ein ganz besonderer Krake, wie Sabine Elvert den Kindern erklärt. Er kann lieb gucken oder traurig und wandert in der Runde von Hand zu Hand. Wer den Kraken hat, stellt sich kurz vor, sagt den Namen, Alter – und wer aus der Familie gestorben ist. Damit beginnt das Treffen der Kindertrauergruppe in Teltow.
Der Verlust eines nahen Angehörigen, fast immer ist es ein Elternteil oder Geschwister, eint die Gruppe. Regelmäßige Treffen mit Gleichaltrigen, die Ähnliches erlebt und zu verarbeiten haben, können helfen, sich in der neuen Situation besser zurechtzufinden, weiß Sabine Elvert, die als hauptamtliche Koordinatorin vom Potsdamer Verein „Kinderhilfe“ die Treffen koordiniert, organisiert und begleitet. „Trauernde brauchen Gleichgesinnte, denen sie nicht erklären müssen, wie sie sich fühlen“, sagt sie. Ausgebildete Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter unterstützen dabei den persönlichen Prozess, in welchem die Kinder lernen, ihre individuellen Trauergefühle zuzulassen, mit ihnen umzugehen und im kreativen Tun Ausdruck zu verleihen. „Wenn mit den Händen gebastelt wird, geht der Mund auf“, so die Trauerbegleiterin, „da fangen selbst die schüchternen Kinder an zu reden“. Und das tun sie während des Treffens, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auch schimpfen oder fluchen gehört mal dazu. In der Gruppe dürfen alle frei reden. Die Trauerbegleiter hören dabei vor allem zu, das sei das Wichtigste. „Ich war in letzter Zeit viel draußen“, erzählt der neunjährige Malte aus Teltow, der seinen Vater verloren hat, „da konnte ich oft die Sterne sehen“. Ein Mädchen aus Kleinmachnow zieht sich gleich zu Beginn des Treffens die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und sagt: „Mein Tag war Scheiße! Zu viel Ärger in der Schule.“ Ihr jüngerer Bruder erzählt vom Fußballtraining, während er in einer Schachtel mit verschiedenen Holzstücken kramt.
Kinder trauern anders
Während der Treffen wird immer gebastelt. Heute dekorieren die Kinder ihr eigenes Leuchtglas. Sie legen Steine, Holzstückchen, Federn, Perlen, Muscheln und eine Lichterkette hinein und sollen sich überlegen, was für Wünsche sie mit ins Glas tun würden. Talea ist fünf und hat vor wenigen Monaten ihren Vater verloren. Sie ist zum ersten Mal in der Gruppe und hat noch keinen Wunsch, „aber mir fällt bestimmt noch was ein“, sagt sie. Malte wünscht sich, dass sein Vater wiederkommen könnte, und das Mädchen mit dem Kapuzenshirt weniger Streit im Hort.
Währenddessen sitzen die Mütter nebenan am langen, hellen Holztisch, der mit Weintrauben, Heidelbeeren, Salzstangen und Apfelsaft eingedeckt ist, und reden auch. Erzählen von der Kita, der Schule, ihrem Job. Bei einem Kind schlägt sich die Trauer momentan eher in Wut nieder, die gesamte Familie übe sich daher gerade im generellen Umgang mit Frust, erzählt eine Mutter. Ein anderes Kind suche gerade sehr intensiv nach Nähe. „Der Umgang mit Trauer, meiner eigenen und der meiner Tochter, fällt mir im Alltag nicht immer leicht“, sagt Claudia aus Stahnsdorf. „Ich will ja nicht mit dem Verlust hausieren gehen, aber für Kinder gehört das wohl dazu, es Anderen immer wieder zu erzählen.“
Jeder Mensch trauert anders, sagt Gabriele Rech, die wie Sabine Elvert ausgebildete Trauerbegleiterin und Koordinatorin bei der „Kinderhilfe“ ist. Das berge eine Menge Konfliktpotenzial. „Zu Hause führt der Verlust eines Elternteils oder Geschwisterkindes bei den Erwachsenen oft zu Sprachlosigkeit“, erklärt sie. Erwachsene wollten nicht permanent daran rühren. Kinder seien in ihrer Trauer hingegen wie „Pfützenspringer“. Vor allem Jüngere trauerten eher gegenwärtig, in Episoden und oft viel kürzer als Erwachsene, dafür aber immer wieder. Die Tragweite, die ein Todesfall in der Familie mit sich bringt, erkennen Kinder nur langsam, erst ab einem Alter von neun oder zehn Jahren. In der Pubertät kommt die Trauer manchmal schlagartig wieder. Dann sei es wichtig, das aufzufangen, selbst wenn der Verlust schon ein paar Jahre her ist.
Keine Unterstützung durch Krankenkassen
Rund drei Jahre dauert es in der Regel, bis Kinder ihre Trauer bewältigt und einen guten Umgang für sich gefunden haben. Allerdings dürfen sie auch nach dieser Zeit jederzeit wieder in die Gruppe kommen. Bei den monatlichen Treffen ist Trauer immer irgendwie Thema, aber nicht immer gehen die Trauerbegleiter dabei „in die Tiefe“, wie Sabine Elvert es ausdrückt. Dafür gibt es spezielle Trauerprojektwochen oder Trauerreisen für Kinder ab elf Jahren. „Hier haben wir genug Zeit, um in Ruhe mit den Kindern und Jugendlichen die Aspekte zu bearbeiten, die sie gerade am meisten oder immer wieder beschäftigen.“
Das Team um Sabine Elvert ist in und um Potsdam aktiv. In Teltow finden derzeit die einzigen Treffen für das gesamte Umland statt. Sogar aus Berlin, Wünsdorf oder Trebbin kommen die Familien. „Sie nehmen manchmal wirklich lange Fahrtwege in Kauf, was verdeutlicht, wie groß der Bedarf ist“, konstatiert Sabine Elvert. Da Trauer an sich keine Krankheit ist, gibt es für Trauerarbeit bislang keinerlei Unterstützung von den Krankenkassen. Die Treffen in den Gruppen sind für die Familien trotzdem kostenfrei. Die Trauerarbeit der „Kinderhilfe“ wird vollständig durch Spenden, eingeworbene Fördermittel und Sponsoren finanziert. Eine gute Bewältigung von Trauer ist eine Investition in die mentale Gesundheit. In der Pubertät kann unverarbeitete Trauer zu Identitätsstörungen und Verunsicherung führen oder psychische Krisen auslösen, so Sabine Elvert. Betroffene im gleichen Alter könnten sich in den Gruppen gegenseitig stützen, Halt und Vertrauen schenken. Der Satz eines Jungen aus Sabine Elverts allererster Trauergruppe ist ihr heute noch im Gedächtnis. „Er sagte, wie toll es hier sei, weil es nur Kinder gebe, deren Papa auch gestorben ist“, erinnert sie sich an die Worte des Kindes nach seinem ersten Treffen und fügt hinzu: „Dieser Satz verdeutlich die Last, die durch den Verlust eines Elternteils oder Geschwisters auf den Schultern der Kinder liegt.“
Eine Warteliste für die Kinder- und Jugendtrauergruppen der „Kinderhilfe“ gibt es nicht. „Wir schauen, dass immer alle versorgt werden“, sagt Sabine Elvert. „Unser Vereinsvorstand ist da dankenswerter Weise sehr flexibel, der sieht den Bedarf und wir dürfen darauf reagieren.“ Etwa durch die Eröffnung einer zweiten Kinder- oder Jugendtrauergruppe. Die Gruppen sind mit maximal acht teilnehmenden Kindern bewusst klein gehalten. Ohne das Engagement von ehrenamtlichen Helfern wäre die Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen in der Form, wie sie in Teltow und Potsdam angeboten wird, allerdings nicht möglich. Für jedes Treffen werden zwei bis drei Trauerbegleiterinnen benötigt. Zwei in den Gesprächsrunden, falls ein Kind doch mal unter Wut oder Tränen den Raum verlassen muss, was nicht unbegleitet geschehen soll, und eine weitere bei den wartenden Eltern.
Ehrenamtliche Begleiter dringend benötigt
Die Ausbildung zur Trauerbegleiterin dauert rund neun Monate und kostet etwa 20.000 Euro. Durch Spenden müssen Interessierte allerdings lediglich einen sehr geringen Unkostenbeitrag von 150 Euro selbst bezahlen. Sabine Elvert wünscht sich hier mehr gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit in der Trauerbegleitung und einen offeneren Umgang damit in der Gesellschaft. „Es braucht mehr mutige Menschen, die sich mit dem Thema, auch ihrem eigenen Umgang mit Trauer, auseinandersetzen wollen und keine Angst davor haben.“ Wie die Stahnsdorferin Marion Albert oder Anja Pöppel aus Potsdam. Die beiden ehrenamtlichen Trauerbegleiterinnen hatten zu Beginn kaum eine Vorstellung, was sie erwartet. „Ich dachte, man muss Anteil nehmen am Schicksal der Kinder. Dann habe ich gelernt, dass man sich ja nicht einfach so in jemand anderen hineinversetzen kann, sondern sehr genau zuhören muss“, sagt Anja Pöppel. Sabine Elvert ist dankbar für das Engagement. „Wir benötigen dringend immer wieder Ehrenamtliche zur Unterstützung.“ Der nächste Kurs zur Ausbildung als Trauerbegleiter startet im Sommer.
Nach einer Stunde endet das Treffen der Kindertrauergruppe in Teltow beinah so unbeschwert wie es begonnen hat. Sabine Elvert schlägt sanft mit dem Klöppel gegen die Klangschale. Solange der Ton zu hören ist, schweigen alle und lauschen. Zum Schluss darf sich jeder im Raum eine Walnuss aussuchen. Die Kinder sind erstaunt: Im Inneren der Nüsse klackert es. „In jeder Nuss befindet sich ein Edelstein“, erklärt Sabine Elvert. Öffnen sollen die Kinder die Nuss aber nicht sofort, sondern an einem für sie ganz besonderen Tag. Der Tag, an dem der Papa gestorben ist vielleicht. Oder irgendein anderer Tag, an dem es den Kindern mal schlecht geht. „Dann knackt ihr die Nuss, und der Edelstein zaubert euch wieder ein gutes Gefühl in den Bauch.“ Madlen Pilz
Über die Kinderhilfe e.V.
Die Kinder- und Jugendtrauerarbeit ist eines von vielen Projekten des Vereins. Hier wird Trauerarbeit in Teltow, Potsdam und im Umland für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene angeboten. Aber auch Einzelbegleitung im häuslichen Umfeld, Beratungen für Erzieher und Pädagogen in Schulen und Kitas umfasst das Angebot. Seit drei Jahren gibt es auch eine Trauergruppe für Männer, die Kinder verloren haben. Der nächste Lehrgang zur Basisausbildung für die Trauerbegleitung mit dem Schwerpunkt „Kinder und Jugendliche“ startet am 16. Juni 2023. Weitere Informationen unter www.kinderhilfe.de.
Bilder: Madlen Pilz