BrandenburgTeltow

Kein Weg zurück

Ahmad Ali und seine Frau Roslban sind 2015 wie viele andere Familien auch aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. In Teltow haben sie eine neue Heimat gefunden. Hier bauen sie für sich und ihre fünf Kinder ein sicheres Leben auf.

Ein neugieriges „Hallo“ klingt mir im Treppenhaus entgegen. Immer wieder, bis ich von ganz unten nach ganz oben in den vierten Stock gestiegen bin. Mit großen dunklen Augen schaut mich der dreijährige Jousef an, als sein Vater Ahmad mich freundlich in die Wohnung bittet. „Unstoppable“ steht auf seinem T-Shirt, nicht zu bremsen, das passt zu dem kleinen Wirbelwind, wie ich im Laufe meines Besuchs bei der Familie Ali merke. Freundlich werde ich auch von Mutter Roslban und Jousefs vier älteren Geschwistern, Lava, Lara, Mohamad und Ronahin, begrüßt.

Das Wohnzimmer ist das Herzstück der Wohnung, in der die siebenköpfige Familie lebt. Die Fensterbretter sind unter den vielen Blumentöpfen kaum noch zu sehen. „Ich liebe einfach Blumen und wir haben leider keinen Balkon“, sagt Roslban, deren Augen ebenso groß und dunkel sind wie die ihrer fünf Kinder. In der Ecke steht ein Ficus, hinter den Korbstühlen schauen Zimmerpalmen und Efeututen in Kübeln hervor. Die feuerroten Geranien und lachsfarbenen Rosenbüsche hat sie selbst gezogen. Ihr ganzer Stolz sind die Coleus-Blumen, die mit wunderschönen weinroten Blättern und fast schon irisierenden gelbgrünen Rändern jeden Betrachter anleuchten. Auch das Basilikum steht nicht zum Verfeinern der Speisen auf dem weißen Tischtuch. Ich soll mit den Händen darüberstreichen, über die kleinen Blätter, nicht die großen, und daran riechen, erklärt die Kurdin mit einer Stimme, in der Fröhlichkeit und Stolz mitschwingen und auch etwas Wehmut. „Alles Pflanzen aus unserer Heimat.“

Flucht aus Syrien in die Türkei

Heimat, das ist für die Familie Afrin, eine mittelgroße Stadt im Nordwesten Syriens, etwa 50 Autokilometer entfernt von Aleppo, in einem im Bürgerkrieg heftig umkämpften Gebiet. „Wir mussten die Kinder in Sicherheit bringen, als die ersten Bomben über dem Dorf eingeschlagen sind“, erinnert sich Roslban leise. 2012 verlässt die Familie deshalb ihre Heimat und flieht mit den damals drei kleinen Kindern in die Türkei. 14 Tage lang sind sie zu Fuß unterwegs, mit nichts als den Kleidern, die sie am Leib tragen. Sie übernachten auf der Straße im Staub. Ihr einziger Koffer mit etwas Kleidung für die Kinder und handgenähten Kopftüchern zum Verkaufen wird geklaut. In Izmir bringt Ahmad Ali seine Familie als Schumacher durch. Ein Handwerk, das er in Syrien lernt, als er nach der siebten Klasse die Schule verlässt. Ahmads Eltern bleiben in Syrien. Seit elf Jahren haben sie ihren Sohn nicht mehr gesehen. Kontakt haben sie nur, wenn es dort eine stabile Internetverbindung gibt. Sein Vater weine oft am Telefon, er würde seine Familie so gern noch einmal wiedertreffen, bevor er sterbe, erzählt Ahmad. Ihre beiden jüngsten Enkelkinder haben die Großeltern der Familie noch nie gesehen. Auch Ahmads Schwester ist in Afrin geblieben, weil sie nicht alles aufgeben wollte. „Mein Heimatland ist Syrien“, sagt Ahmad, „es ist schwer“. Irgendwann zurückzugehen ist für die Familie keine Option. „Wer jetzt nach Syrien reist, kommt da nicht mehr so schnell raus“, sind sich Ahmad und Roslban sicher.

Weitere Geschwister leben in der Türkei, in Köln und in Brück bei Bad Belzig. Eine von Roslbans Schwestern ist mit ihrem Mann ebenfalls in Afrin geblieben, die andere lebt in Aleppo, die beiden Brüder mittlerweile in Stuttgart. Mit den in Deutschland lebenden Geschwistern trifft sich die Familie regelmäßig. In den Sommerferien oder zu bestimmten Anlässen. Dem Neujahrsfest „Newroz“ am 21. März etwa, eines der vielleicht ältesten kurdischen Feste, das von vielen Kurden auch als Symbol ihres immer noch andauernden Kampfes gegen die Unterdrückung ihrer Ethnie in den Regionen dieser Welt gefeiert wird. Davon soll auch die große Flagge an der Wand über dem Sofa im Wohnzimmer erzählen, eine gelbe Sonne auf rot-weiß-grünem Grund. „Drei Streifen, 21 Sonnenstrahlen, das Datum des Festes“, erklärt die sechzehnjährige Ronahin stolz. „Wir Kurden tanzen, kochen und essen mit Familie und Freunden gemeinsam am Feuer und tragen extra für dieses Fest genähte Kleider.“ Wenn sie so selbstbewusst von den Traditionen ihrer Familie erzählt, spüre ich, wie wichtig diese für die Familie sind, auch für die Kinder. Eine eigene Erinnerung an diese Feste in Syrien hat Ronahin nicht. Sie ist erst sechs, ihre beiden Geschwister vier und zwei Jahre alt, als die Familie aus Syrien flieht. Drei Jahre später verlässt sie die Türkei.

Neue Heimat in Deutschland

Am 15.11.2015 kommt die Familie Ali nach einer langen Reise durch sieben europäische Länder in Deutschland an, im Erstaufnahmelager in Eisenhüttenstadt. Von dort werden sie erst nach Ferch, dann nach Teltow geschickt. Ins Übergangswohnheim, das damals noch in der Warthestraße ist. „Es war schlimm“, erinnert sich Ahmad. „Auf vier Etagen wohnten dort so viele Familien und alle mussten sich eine Küche und eine Dusche teilen“. Schließlich bezieht das Wohnheim neue Räume in der Oderstraße und es wird etwas besser. Mit einem einzigen Zimmer bleibt es für die mittlerweile sechsköpfige Familie allerdings sehr beengt. Zweieinhalb Jahre wohnt die Familie hier. Ahmad bekommt in dieser Zeit Deutschunterricht von ehrenamtlichen Helfern. Die gemeinnützige Union Sozialer Einrichtungen (USE) in Kleinmachnow unterstützt ihn bei Behördengängen, der Kommunikation mit der Schule, die seine Kinder fortan besuchen, den vielen Bewerbungen um einen Job, Vorstellungsgesprächen. Eines ist erfolgreich. Seit drei Jahren arbeitet der Schuhmacher in einem Steglitzer Sanitätshaus und stellt orthopädische Einlagen her. Mit Hilfe einer ehrenamtlichen Helferin findet die Familie auch endlich eine eigene Wohnung in Teltow.

Familienalltag mit kurdischen Traditionen

Hier lebt die Familie nun auf rund 80 Quadratmetern in vier Zimmern. Der Dreijährige schläft im Elternbett, die drei Mädchen teilen sich ein Schlafzimmer. Bett, Schrank und Schreibtisch des vierzehnjährigen Mohamad stehen im dritten Raum, in dem auch drei volle Wäscheständer Platz finden müssen und ein Regal, in dem mit Schaffell gefüllte und mit selbstgenähten Bettlaken überzogene Matratzen für Gäste liegen. „Es gehört zu unserer Kultur, auf Familienbesuch immer vorbereitet zu sein“, sagt Roslban. Der kleine Tisch in der Küche wird eher selten benutzt, „wir sitzen beim Essen lieber auf dem Teppich“. Auch das gehöre zur Kultur. Die 39-Jährige ist nach dem frühen Tod ihrer Eltern bei ihren Großeltern aufgewachsen, in einem kleinen Dorf vor den Toren Afrins, die dort 100 Schafe hielten. Roslban erzählt, wie sie gelernt hat, Käse herzustellen, und bietet mir „Halawt el Jibn“ an. Gebackene Teigtaschen aus Weizengrieß, die mit selbstgemachtem Frischkäse gefüllt sind und mit Rosenwasser und Zuckersirup serviert werden. Eine traditionelle Nachspeise, die butterweich auf der Zunge liegt und die sie zu jeder Zeit, auch zum Frühstück oder Abendbrot gerne essen, wir mir Mohamad mit verschmitztem Lächeln versichert. Roslban kniet derweil auf dem Teppich vor dem Couchtisch und gießt konzentriert Kaffee in die Tassen. Syrischen Kaffee, den sie auf einem Markt in Berlin-Neukölln besorgt und auf spezielle Art zubereitet. „Kurdischer Kaffee muss Schaum auf der Oberfläche haben“, sagt sie und rührt vorsichtig mit einem Löffel in der Kanne. Ihr Kaffee ist von einem überraschend reinen und intensiven Aroma, ohne die strenge Bitterkeit europäisch gerösteter Bohnen. Wenn Jousef im nächsten Jahr in die Kita geht, möchte Roslban einen Deutschkurs machen und auch arbeiten gehen. Am liebsten als Köchin.

Bescheidene Wünsche für die Zukunft

Für die Unterstützung, die die Familie erfahren hat und von ihren Nachbarn, Freunden und Bekannten nach wie vor erfährt, ist sie sehr dankbar. Das Geld, das Ahmad als orthopädischer Schumacher verdient, spart er. Kauft sich damit einen Mazda und träumt von einer größeren Wohnung. „Die Kinder werden ja auch größer“, sagt er nur und lächelt ihnen zu. Und ein kleiner Garten zum Pachten wäre toll, dann müssten sie zum Grillen nicht immer aufs Tempelhofer Feld nach Berlin fahren.

Mit Fremdenfeindlichkeit ist die Familie hier bislang kaum in Berührung gekommen. In der Schule sei es mal zu Ausgrenzungsversuchen gekommen, die auch einem arabischen und einer türkischen Mitschülerin galten. Das wurde von den Lehrern sofort aufgegriffen. So konnten die größten Vorurteile abgebaut werden. Gewisse Berührungsängste blieben manchmal trotzdem bestehen, sagt Ahmad. Die Familie spricht im Alltag vor allem Kurdisch miteinander und ich bin erstaunt, dass sich alle trotzdem so aufgeschlossen auf Deutsch mit mir unterhalten. „Ich möchte, dass meine Kinder lernen dürfen, eine Ausbildung machen, vielleicht studieren“, wünscht sie Mutter Roslban. „Sie sollen eine gute Arbeit finden und gesund bleiben, sie wachsen hier auf, ihre Heimat ist hier“, fügt Ahmad hinzu und nach einer kurzen Pause: „Meine Frau und ich haben den Krieg gesehen, ich will, dass meine Kinder das nicht erleben müssen.“ Madlen Pilz

Titelbild: Madlen Pilz