Wirtschaft

Netzagentur: Gasreserven reichen derzeit nur für „ein bis zwei Monate“

Nach den reduzierten russischen Gaslieferungen über die Gaspipeline Nord Stream I werden Zweifel an der Energiesicherheit Deutschlands laut. Die Bundesnetzagentur befürchtet gar einen Totalausfall von Lieferungen aus Russland.

Laut Bundesnetzagentur können die derzeitigen bundesdeutschen Gasreserven den Bedarf nicht langfristig decken. Ohne russisches Gas würden die derzeit eingespeicherten Mengen bei einem durchschnittlichen Winter etwa „ein bis zwei Monate“ reichen, fürchtet der Vorsitzende der Behörde, Klaus Müller. Zuerst hatten die Zeitungen der Funke-Mediengruppe darüber berichtet.

Dieses Zeitfenster ergebe aus dem derzeitigen Speicherstand und aus den bestehenden Verpflichtungen, Gas in andere europäische Staaten weiterzuleiten. Die Vorhersage basiere jedoch auch auf Unwägbarkeiten, so Müller. Er sehe zudem kein Szenario ohne Gaslieferungen nach Deutschland. Die Bundesrepublik könne etwa aus Norwegen und aus den Niederlanden versorgt werden.

Wachsende Gaspreise

Trotzdem müssten nun Vorbereitungen für einen möglichen Gasmangel getroffen werden, fordert Müller. Die bisherigen Bundeshilfen von bislang 15 Milliarden Euro seien nicht ausreichend. Je höher der Gaspreis steige, desto teurer werde es, die gesetzlich vorgeschriebenen Speicherziele bis Oktober und November zu erreichen. Bis Oktober sollen die Gasspeicher zu 80 Prozent, bis November zu 90 Prozent befüllt sein. Diese Vorgabe wurde laut Müller jedoch auf einer Preisgrundlage von 85 Euro pro Megawattstunde kalkuliert. Mittlerweile koste diese jedoch bereits 130 Euro.

An den internationalen Energiemärkten sind sowohl Strom als auch Gas deutlich teurer geworden. Laut Statistischem Bundesamt hat sich der Gaspreis zwischen April 2021 und April 2022 um das Viereinhalbfache erhöht und steigt derzeit weiter. Der Verbraucherpreis für Strom ist in der gleichen Zeit um rund 20 Prozent gestiegen.

Derzeit sind die bundesdeutschen Gasspeicher zu etwas über 60 Prozent befüllt und damit deutlich mehr als im Vorjahresmonat. Allerdings befürchtet die Netzagentur – ebenso wie die Bundesregierung – einen gänzlichen Ausfall russischer Gaslieferungen. Müller warnt in diesem Zug vor einem drastischen Preisanstieg. Die Drosselung der Gaslieferungen über Nord Stream I könne zu einem drastischen Preisanstieg führen; möglich sei sogar eine Verdreifachung.

Lieferstopp bei Nord Stream I?

Das russische Staatsunternehmen Gazprom hat die Gaslieferungen nach Europa bereits deutlich reduziert. So werden über die Nord Stream 1-Pipeline derzeit 60 Prozent weniger Gas transportiert. Für den 11. Juli kündigte das Unternehmen nun routinemäßige Wartungsarbeiten an, die bis zum 21. Juli dauern sollen. Müller fürchtet jedoch eine längerfristige „politische Wartung“.

Bereits die jetzige Drosselung ist aus Sicht der Bundesregierung politisch motiviert. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnte etwa davor, Moskau könne die Abhängigkeit von russischem Gas als Druckmittel gegen die westlichen Sanktionen einsetzen. Für diesen Fall fürchtet Müller, es könne vom Herbst bis zum Frühlingsbeginn 2023 zu einem Gasmangel kommen. Es sei angesichts der jüngsten Erfahrungen mit Russland zudem unverantwortlich, davon auszugehen, dass „alles von alleine gut wird“.

Derzeit sind die Auswirkungen eines möglichen vollständigen Lieferstopps nicht gänzlich zu kalkulieren. In einer Notlage könne nicht jeder Betrieb als systemrelevant eingestuft werden, so Müller. So müsse einerseits in kritischen Bereichen wie Lebensmittel- und Pharmabranche mit Umsicht vorgegangen werden. Als nachrangig würden dann etwa Freizeitangebote wie beispielsweise Schwimmbäder gelten oder die „Produktion von Schokoladenkeksen“.

Russischer Gasexport in die EU sinkt drastisch

2021 betrug der Gasbedarf der Industrie 370 Terawattstunden und machte damit über ein Drittel des bundesdeutschen Gasverbrauchs aus. Demgegenüber hatten Haushalte 310 Terawattstunden verbraucht. Der übrige Anteil wurde in Gewerbe und Dienstleistungen sowie für die Strom-, Wärme- und Kälteversorgung eingesetzt. Der Anteil russischer Lieferungen am deutschen Gasbedarf betrug dabei 55 Prozent.

Dieser ist mittlerweile auf 35 Prozent gesunken. Allerdings ist der Gaspreis seit Beginn des Angriffs gegen die Ukraine um beinahe 70 Prozent gestiegen. Davon betroffen ist nicht nur Deutschland: Zwischen 20. und 26. Juni hatte Russland 840 Millionen Kubikmeter in die EU exportiert – rund ein Viertel des Mittelwerts für dieselbe Woche im Vergleichszeitraum von 2015 bis 2020.

Tritt Paragraph 24 des Energiesicherungsgesetzes in Kraft?

Im Mai hatte der Bundestag eine Novelle des Energiesicherungsgesetzes beschlossen. Diese sieht gemäß Paragraf 24 eine Regelung vor, nach der die Energieunternehmen im Fall einer Gaskrise die Preise für Gas auf ein „angemessenes Niveau“ anheben könnten. Voraussetzung hierfür ist die Ausrufung der Alarmstufe gemäß dem nationalen Notfallplan Gas. Diesen Schritt hatte Wirtschaftsminister Habeck am 23. Juni schließlich vollzogen. Allerdings ist die Preisanpassungsklausel derzeit noch nicht in Kraft. Die Preisanpassung gilt erst dann als nicht mehr angemessen, wenn sie die Mehrkosten einer möglichen Ersatzbeschaffung durch die betroffenen Energieversorger überschreitet.

Diese Preisanpassungsklausel tritt erst in Kraft, wenn die Bundesnetzagentur formell eine „erhebliche Reduzierung des Gasimportmenge“ feststellt und dies im Bundesanzeiger veröffentlicht – erst dann haben Unternehmen grünes Licht für Preisanpassungen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass Energieversorger sich bei steigenden Gaspreisen kein Gas mehr leisten und ihre Kunden nicht mehr beliefern können oder sogar Insolvenz anmelden müssen.

Die Gasversorger müssten ihre Kunden über die Preisanpassung rechtzeitig informieren – diese hätten daraufhin ein Sonderkündigungsrecht. Wenn sich die Lage anschließend wieder entspannt und die Bundesnetzagentur feststellt, dass wieder mehr Gas nach Deutschland importiert wird, hätten die Kunden das Recht, eine erneute Anpassung des Gaspreises zu fordern. Neu eingefügt wurde bei der Novellierung im Mai außerdem eine Regelung, laut der nach dem Ende der Notfalllage die Energiepreise auf ihr altes Niveau zurückgesetzt werden müssen. Erfolgt dies nicht, müssen Energieversorger dies nachvollziehbar begründen. ph

Symbolbild: Pixabay.com

Lesen Sie auch: