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Günter Verheugen: „Die EU ist kein Endzweck, sondern ein Instrument”

Am 30. Januar lud das Forschungsinstitut „Dialog der Zivilisationen” (DOC) zum Neujahrsempfang ein. Festredner war Günter Verheugen, der Europa zu seinem Thema machte.

Das DOC ist eine Denkfabrik mit Sitz in Berlin- Mitte. Über sich selber sagt das Institut u. a. : „Bei der Arbeit des Instituts geht es um Lösungsansätze für die zentralen Herausforderungen der internationalen Gemeinschaft. Dahinter steht die Überzeugung, dass der offene, respektvolle und gleichberechtigte Dialog, vor allem der interkulturelle Dialog, die grundlegende Voraussetzung ist für das Zusammenwirken und die gemeinsame Existenz der Zivilisationen.“

Festredner war in diesem Jahr der ehemalige EU-Kommissar Prof. Günter Verheugen. In seiner Rede betonte er gleich beim Beginn: „Ich will bescheiden bleiben und die Welt nicht neu ordnen.“ Er regte auch an, bevor man andere unter die sprichwörtliche Lupe nimmt „sollte man zuerst sein eigenes Haus ordnen und bestellen.“ An eines erinnerte der Gast auch die geladenen Gäste: „Europa ist nicht die Europäische Union. Genauso wenig wie die Europäische Union Europa ist. Vor 25 Jahren kannten wir den Unterschied in Deutschland noch genauer. Die EU ist kein Endzweck, sondern ein Instrument, um die europäische Einigung zu verwirklichen.“ Bei der Verteilung von Reichtum auf der Welt teilte er folgende Zahl mit: „Die 8 reichsten Personen der USA haben mehr Vermögen angehäuft als ganz Afrika.“ Er wolle da keineswegs etwas schönreden oder kritisieren, sondern nur „darauf hinweisen: Wer meint, dieser Zustand wird sich immer so halten, der irrt ganz gewaltig.“ Man müsse auch bedenken, „schon 2050 wird sich die Einwohnerzahl Afrikas im Vergleich zu heute verdoppelt haben.“ Immer mehr Aufmerksamkeit müsse man „der neuen Großmacht China widmen. Die Chinesen geben ja selber unumwunden zu, dass sie eine Großmacht anstreben. Auf dem Parteitag 2017 der chinesischen Kommunistischen Partei wurde dies offen angesprochen.“ Für ihn gehört „Russland kulturell und zivilisatorisch zu Europa. Warum kann das politisch nicht gestaltet werden?“ Es liege ihm auch hier fern, etwas zu beschönigen, gerade bei der aktuellen Krimkrise sei das so. Man dürfe „aber sicherlich auf folgendes hinweisen: Das Problem der russischen Minderheit in allen baltischen Ländern hat Russland nicht erfunden.“ Sein Ratschlag im Umgang mit Russland: „Wir haben immer Lösungen gefunden. Wir brauchen einander. Wir sind aufeinander angewiesen. Wir haben auch aktuell keine Sprachlosigkeit zu verzeichnen. Wir haben zu viel Geschwätz!“ Zur Türkei gewandt meinte er: „Auch Erdogan ist nicht an allem schuld. Die Türkei ist ein Teil Europas.“ Manche Zeitgenossen vergessen es leider sehr oft, wenn sie betonen, die Türkei sei ein asiatisches Land und gehöre daher nicht zu Europa. Diese Leute vergessen es oder wollen es nicht wahrhaben, dass die Türkei auch einen europäischen Teil besitzt. In Bezug auf die USA erklärte er: „Ich mag Amerika sehr. Ist aber wirklich niemand auszumachen , der unseren amerikanischen Freunden mal sagen kann: So geht es nicht?“ Für Verheugen ist der französische Präsident Macron „der Europäer, der einem das Gefühl vermittelt, er glaubt an die europäische Einigung. Man spürt hier seine Leidenschaft und seinen starken Willen. Er hat die Wahlen gewonnen, völlig aus dem Nichts.“ Das Publikum zollte den Ausführungen von Prof. Verheugen langen und starken Applaus. Der Festredner beantwortete auch aus den Reihen der Gäste zahlreiche gestellte Fragen.

Einer der Zuhörer war Dipl.-Ing. Volker Tschapke. Der Ehrenpräsident der Preußischen Gesellschaft teilte im Pressegespräch mit: „Bravo, Herr Prof. Verheugen kann man da nur sagen! Er hat in aller Kürze zum Ausdruck gebracht, wo es wie knirscht und Lösungsansätze auch mitgeteilt. Ganz besonders hervorheben möchte ich seine Aussage, dass wir ja keine Sprachlosigkeit verzeichnen können. Leider haben wir zu viel Geschwätz. Da hat Herr Prof. Verheugen für mich den Nagel auf den Kopf getroffen. Weniger Geschwätz und weniger Profilierungssucht bei einigen politisch Verantwortlichen wären schon ein sehr guter Schritt in die richtige Richtung.“

Der 1944 geborene Günter Verheugen beendet sein Studium als Historiker und gehört der FDP an. Beim Bundesinnenministerium unter der Leitung von Bundesinnenminister Hans – Dietrich Genscher fängt er 1969 als Referatsleiter an. Mit seinem Chef zusammen wechselt er 1974 ins Auswärtige Amt. Bei der FDP übt Günter Verheugen zuerst das Amt des Bundesgeschäftsführers aus, es folgt später das Amt des FDP-Generalsekretärs. Aus Protest gegen ein Konstruktives Misstrauens – Votum gegen Bundeskanzler Schmidt (SPD) und dem damit mehrheitlichen Abrücken der FDP-Bundestagsfraktion der Koalition aus SPD/FDP und Hinwendung zur CDU/CSU unter Helmut Kohl und der neuen Koalition aus Union und FDP verlässt er die FDP und wird Mitglied der SPD. Als Parlamentarier gehört er von 1983 bis 1999 dem Deutschen Bundestag an. Nochmals wird er Bundesgeschäftsführer, diesmal der SPD. Von 1993 bis 1995 übt er dieses Amt aus. Unter Bundesaußenminister Joschka Fischer (GRÜNE) ist Günter Verheugen von 1998 bis 1999 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Im September 1999 wird er Mitglied der Europäischen Kommission und bleibt es bis 2004. Von 2004 bis 2010 ist er als EU-Kommissar tätig. Danach berief die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder ihn zum Honorarprofessor.

Text/Foto: VTN